Waldmelodie – Fotos & Lyrik, Waldgut Verlag, Reihe Kunst & Text, Frauenfeld 2019, 208 Seiten.
Bäume sind Persönlichkeiten, die ganz andere Herausforderungen des Lebens
bestehen müssen als wir Menschen. Bäume sind auch ästhetisch und ihre Struktur ist
oft als Bild faszinierend. Ich habe ururalte Bäume gesehen: in der Bretagne die 1000-jährige Eiche der «ForĂȘt
de BrocĂ©liande»; in Sri Lanka den 2000-jährigen Bodhi-Baum von Anuradhapura, der
als ältester von Menschenhand gepflanzter Baum gilt.
Einst, als Kind, habe ich eine Eichel und eine Kastanie in Töpfe gesteckt und sah die
jungen Bäume wachsen – heute sind beide riesig.
In diesem Band habe ich 76 Fotos und 44 Gedichte
zusammengestellt, die auf Spaziergängen durch Wald und Feld entstanden sind.
Diese Fotos nenne ich «Bildgedichte» – Lyrik mit anderen Mitteln. Sie sind jeweils
begleitet von einem Ein-Wort-Gedicht: eine lyrische Wortfindung, ein Spracheinfall
oder ein «normales» Wort. Dieses Begleitwort kann das Bild in Sprache fassen, ihm
eine zusätzliche Bedeutung geben oder in eine vorstellbare Geschichte hinter dem
Bild führen.
Irène Bourquin
Das Buch ist bei der Autorin noch erhältlich.
Herzblättchen
zahllos winzig
zartgrünes Wedeln
zierliches Windspiel
im Abendhimmel
mächtige Krone
dunkelschrundig
Äste und Stamm
Waldorgel
zieht alle Register
Rauschen und Brausen
Wispern und Wehen
Knacken und Knistern
aufgewühlt das Grün
tanzt in die Nacht
Grillen zirpen
unbeirrt
Schaukelnd
die Spiegelbilder
mächtiger Bäume
im Herbstteich –
goldgrün
die einzelne Birke
auf winziger Insel
reckt sich ins Licht
Platschgeräusch
fallender Eicheln
Kahler Baum
prallvoll
gelber Kugeln
Winteräpfel
rot angehaucht
Flattern und
Zwitschern
Angesichts grosser drohender Umweltveränderungen ist es nicht
erstaunlich, dass Naturlyrik Ausdruck einer sich verändernden Optik
werden kann. Irène Bourquins Lyrik allerdings ist schon lange Teil ihres
Schauens, ihrer Auseinandersetzung mit der Natur. Und weil Irène
Bourquin in den letzten Jahren intensiv zu fotografieren begann, ist ihre
neuste Veröffentlichung eine mehrfach gelungene Auseinandersetzung mit
dem Sehen.
(...)
«Waldmelodien» sind gesammelte Stimmen rund um die Themen «Wald»
und «Bäume». Nicht verklärend, aber geschrieben mit Verehrung und
grossem Respekt. Wer das Buch liest, macht mit der Autorin Spaziergänge,
bleibt stehen, lässt sich berühren. Die Gedichte sind lange Augenblicke,
Korrespondenzen mit den grossen stillen Riesen. (...)
Gallus Frei-Tomic auf: literaturblatt.ch, Blog, 4.12.2019