Schaukelnd im grünen Atem des Meeres


Schaukelnd im grünen Atem des Meeres – Ligurien · Côte d'Azur · Provence · Katalonien, Gedichte, Waldgut Verlag, Bodoni Druck 94, Frauenfeld 2016, 64 Seiten, Handpressendruck vierfarbig.

Literarisch reisen mit Irène Bourquin – sei es lyrisch nach Island, Irland, Patmos, in die Ägäis, sei es durch Prosa in die Südschweiz, in die Bretagne – ist immer wunderbar: Begegnung mit Sehnsüchten und Natur, Leben mit offenen Sinnen, Erfahren der Sprache durch Rhythmus, Stimme und Bild. Hier führt uns die Autorin durch das Tessin nach Italien, an die Côte d'Azur, in die Provence, bis nach Katalonien – und wenn wir nur schon Namen hören wie Val Bavona, Lago d'Iseo, Varigotti, Cap Taillat, Montélimar, Sète, Cadaqués, Cap de Creus, dann: gehen wir hin! Nicht als Touristen, sondern als neugierige sprachliche Abenteurer mit Irène Bourquins Poesie; diese Abenteuer sind nicht gefährlich, aber erfüllend mit Sonne, Wind, Meer, Farben, Wärme.

Beat Brechbühl

Schaukelnd im grünen Atem des Meeres Titelseite

Das Buch ist bei der Autorin noch erhältlich.

Val Bavona

Gewaltiger Schiffsbug
schiebt sich
ins dunstige Blau
zerfurchte
Felssturzwand
mit grünem Deck
ragt auf über
Auenwäldern
wo Ginster glimmt
sich Farne entrollen
der Hüterruf
durch die Bäume schallt
der Bauer mit Brotsack
die Kühe zur Weide führt
ein Jungstier bricht aus
bricht aus wie
Plinio Martinis Gori
auf dem Auswandererschiff

Cavalière

Im Mitternachtsblau
von Cavalière
segeln weiss
Isegrim
Stachelrochen & Bär

Donnernde Brandung
Strudelteppich
Schaumsaum
Gischt

Aufklatschende Welle
Klangdelphin
der Nacht


Ocker und Siena
von Türkis umspült
Varigotti maurisch
im Palmenschatten
die Füsse im Sand
als Wächter
la Torre saracena
auf Punta Crena
und Ruinen am Hang
über dem Hafen
nachts im Dunkel
glühend


Vor Cap de Creus
schwimmt
ein Stier
die Nasenlöcher
schnauben Gischt

Europa
im Schlepptau
führend
kommt er
nicht vom Fleck


Rezensionen

Auf knapp sechzig Seiten nimmt die Autorin die Leser mit auf eine poetische Reise entlang des Mittelmeers. Fixpunkt dieser bourquinischen Kartographie ist die Natur. Bevor jedoch die weiten Landschaften der Küsten Italiens, Spaniens und Frankreichs ins Visier geraten, treibt es Bourquin zu Beginn ihrer Gedichtsammlung in die Enge der Tessiner Täler. In Val Bavona spielt Bourquin auf den Tessiner Autor Plinio Martini an, mit dem sie vor allem eins verbindet: die Sehnsucht nach Landschaften und Orten. [ … ]

Delia Imboden in: Literarischer Monat, Ausgabe 27, 2017

«Eine schöne, sowohl literarisch wie drucktechnisch sehr qualitätsvolle Ausgabe, in der zu blättern und zu lesen so etwas wie bibliophile Wellness erzeugt.»

Walter Eigenmann in: Glarean Magazin, 8. 5. 2017

[ … ] Mit hellwachen Sinnen streift die Dichterin den Wassern entlang, blickt in Höfe und Gärten, blickt an Kirchtürmen hoch und Pastellfassaden entlang. Fängt Farben und Gerüche, Stimmungen und zufällig anwesende Figuren ein und bannt sie in knappe Verse, die ihre ganz persönliche Essenz eines Ortes einfangen. Wie in «Riez»: Im Pastellrausch / provenzalischer Farben / tanzt auf dem Platz / ratternd ein verdorrtes / Platanenblatt. Wenig Verben, ganz viel Atmosphäre.

Dieter Langhart in: St. Galler Tagblatt, 12. 1. 2017

Er riecht noch nach der Druckfarbe der Handpresse, der Umschlag. Vom unteren Rand mündet das Grün in ein Blaugrün, ins darüberliegende Blau stösst in wolkigen Schwingungen ein leuchtendes Gelb. Alle vier Farben laufen noch knapp über dem Falz weiter, auf die Innenseite, zu den «gewellten Sonnendächern der Bars». Irène Bourquin beginnt ihre lyrische Reise in Cadaqués, einem Dorf in Katalonien. Die 1950 geborene Dichterin nimmt uns mit an Orte ihrer (und unserer) Sehnsucht und mit dem Titel «Treppengassen / von Katzen begangen» auch zu anderen Düften. Vertraut mit – und vertrauend auf die geschärften Sinnen an einem fremden Platz auf der Welt, glimmt bei Bourquin in Auenwäldern der Ginster, tragen die Berge Silbersaum; meisselt die Zikade ein Loch in die Nacht.

Brigitte Schmid-Gugler in: Tagblatt, 3. 11. 2016

[ … ] In drei etwa gleich gewichteten Unterabteilungen reisen wir mit der Dichterin um den vielleicht eindrucksvollsten Bogen des Mittelmeeres, von Ligurien über die Côte d' Azur und die Provence nach Katalonien. Was uns aus diesen Texten immer wieder entgegenkommt, ist die Natur in vielfältiger Ausprägung. Irène Bourquins Blick ist weniger detailversessen und sezierend als der vieler anderer LyrikerInnen. Vielmehr schafft sie Überblick, vermittelt uns Raum und Weite der Landschaft am Meeressaum. Ihr Augenmerk richtet sich auf Horizont und Himmel, auf wechselnde Farbenspiele, die vordergründig beinahe etwas Impressionistisches haben mögen, aber nur selten lässt sie ihre Beobachtungen ohne Brechung stehen: «Noch immer das Meer / in jedem denkbaren Blau // am Horizont / die Schatten der Tanker / wachsen». Im letzten Terzett bricht hier die moderne Welt mit all ihren impliziten Gefahren ein, der Tanker eröffnet die Assoziationen von Unfall und Umweltkatastrophe, was allein durch das Bild der wachsenden Schatten und die rasche Aufeinanderfolge des tragenden Vokals «a» erzeugt wird.

Manchmal ist die Brechung auch ironischer Natur, wie im Gedicht «Lago d'Iseo»: «[ … ] es regnet / auf alle Denkmäler / es wäscht / den taubenverschissenen / steinernen Helden / den Kopf». Eine weitere Ebene der Brechung erreicht Irène Bourquin durch ihre Metaphorik, die gerne auch einmal aus einer eigenwilligen Verschränkung von Ding und Tier entsteht und sehr plastische innere Bilder entstehen lässt: «Aufklatschende Welle / Klangdelphin / der Nacht» oder «[ … ] der Silbersand / lichtgrünes Schuppenmuster / der Wellen – sanft / atmendes Meerreptil».

Bei der Strukturierung der Gedichte lässt sich die Autorin überwiegend gänzlich freie Hand. Oft sind die Texte sehr kurz, verströmen etwas von der Holzschnitthaftigkeit japanischer Lyrik, ohne sie jedoch formal zu zitieren. [ … ]

Der Einfluss der bildenden Künste auf die Gestaltung der Gedichte ist deutlich spürbar. Etliche Texte wirken wie ein Aquarellieren mit Worten, in denen mit Farben und Adjektiven nicht gespart wird; in anderen finden sich Bezüge zur Bildhauerei, etwa wenn Bourquin eine «Kormoranskulptur» benennt oder eine Zikade ein Loch in die Nacht meißeln lässt. Was sie vermeidet, ist hingegen die Collage – nichts wirkt gewollt oder willkürlich, die erzeugten Sprachbilder erscheinen, obschon kunstvoll gefügt, wie selbstverständlich.

Den regionalen Unterschieden der Landschaften, die sich ja immerhin über drei Länder erstrecken, trägt Bourquins durchgehender Sound nur insofern Rechnung, als dass häufig die jeweiligen geografischen Orte direkt benannt werden. Es geht ihr dabei allerdings nicht um illustratives Wortgeklingel, vielmehr erschafft sie die Landschaften neu durch ihre individuelle Sprache, eignet sie sich an. Dadurch werden sie in gewisser Weise zur «bourquinischen» Küste, ein der Schönheit verpflichtetes Stück Europa, dessen Besichtigung sie ihrer Leserschaft ermöglicht: Schönheit, die Störung, Herbheit und Verfall mit einschließt. [ … ]

Marcus Neuert auf: www.fixpoetry.com, 7. 10. 2016

[ … ] Macht die Strophenform ein Gedicht aus, oder sollte nicht die Poesie auch in den einfachen Sätzen, Bildern durchscheinen? Viele Stellen, viele Gedichte als Ganzes, zeigen, dass die Autorin dies sehr wohl beherrscht, sogar perfekt die Poesie sprechen lässt: Als Beispiel seien hier nur die Gedichte unter dem Titel Cavalière (Seite 30, 31, 32) oder Porquerolles (Seite 33) angeführt. Das IST Poesie! Sehr schön und begeisternd! Ein Beispiel für einen Prosasatz, der trotzdem unglaublich poetisch ist: «Im Mistral / stehen nur / Windmühlen / stramm / die Bäume / verneigen sich / alle» [ … ]

Die Schönheit der Gedichte korreliert bestens mit der gediegenen handwerklichen Machart des Buches – ich würde es unter «Volltreffer» einreihen.

Hans Bäck auf: Europa Literaturkreis Kapfenberg, Blog, 27. 9. 2016