In Kinderzeiten pflegte bei uns der Samichlaus nur kurz zu klingeln, um gleich darauf
einen Sack mit Nüssen, Mandarinen und Lebkuchen aussen an die Klinke der
Küchentür zu hängen. Genau genommen: Meine Mutter hängte den Sack an die Tür,
nachdem sie kurz geklingelt hatte. Sie war nämlich entschieden der Meinung, es sei
Unsinn, Kinder durch einen strafpredigenden Sankt Nikolaus zu erschrecken – zumal
sie Erziehen als sportliche Betätigung ansah und sich dabei fremde Einflüsse wo
immer möglich verbat. – Der Samichlaus sei in Eile gewesen, erklärte sie jeweils.
Für mich war dies durchaus in Ordnung, hatte ich doch meiner Mutter schon in
zartem Vorschulalter vorgerechnet, dass es dem Samichlaus zeitlich unmöglich wäre,
an EINEM Abend ALLE Kinder zu besuchen. – Das musste ein Märchen für
Erwachsene sein.
Bei unseren Nachbarn, einer Arztfamilie mit vier Söhnen, wovon drei Schlingel, trat
jedes Jahr der Samichlaus auf. Mindestens einer der Schlingel umschlich ihn jeweils,
um die Klebebänder am Bart zu orten. Diese Beobachtung wurde mir berichtet,
zudem habe die Stimme des Nikolaus eindeutig vertraut geklungen, wenn auch durch
den angeklebten weissen Schnauzbart gefiltert.
Ich sah mich in meinen Zweifeln bestätigt und war meiner Mutter dankbar, dass es
trotzdem jedes Jahr echte Nüsse, Mandarinen und Lebkuchen zu knabbern gab.
In reiferen Kinderjahren beobachtete ich mit Vergnügen all die Rotmäntel und
Weissbärte, die zaghaft schon am 4. Dezember, in Rudeln am 5., massenweise am 6.
und vereinzelt auch noch am 7. Dezember Bus, Tram oder Taxi entstiegen und rasch
in dunklen Hauseingängen verschwanden, manche gefolgt von einem schwarz
gewandeten Knecht, den der Volksmund «Schmutzli» nannte. In seltenen Fällen
führte der Schmutzli einen Esel mit, was den zugehörigen Rotmantel zwang, auf
moderne Verkehrsmittel zu verzichten. Das Gesicht des Schmutzli, von der
schwarzen Kapuze verschattet, war kaum sichtbar und trotz meiner längst bestätigten
Zweifel etwas unheimlich. – Im riesigen Jutesack eines Schmutzli hatte mein Vater
als kleiner Junge Schreckensminuten in absoluter Finsternis durchlitten, als er
strafweise aus dem Elternhaus getragen wurde, die steile Gartentreppe
hinunterholperte, bis auf die Strasse –
Etwas aber war angesichts des mehrtägigen Ausschwärmens zahlloser Rotmäntel und
Weissbärte offensichtlich: Die Vervielfältigung des Samichlaus hatte sein
Zeitproblem nicht gelöst.
© Irène Bourquin 2008