Elch in der Dämmerung, Erzählungen, mit 12 Holzschnitten von Nilla Six, davon 4 zweifarbig, Heubergpresse, Basel 2004, 36 Seiten, Format 15 x 22 cm. 350 Exemplare, signiert und nummeriert.
Ein Ozeanriese auf der Strecke Cherbourg –
Southampton – New York steht still. Was hat Marie, die verlassene Braut, damit zu
tun? Welches ist die transzendentale Bestimmung eines unersetzlichen
Löffels? Wodurch lenkt der treuherzige Welpe der Galeristin
die Aufmerksamkeit aus dem ehrenwerten Sizilien auf sich und wie wendet der
kleine Vierbeiner eine tödliche Revanche von sich und seiner Herrin ab?
Irène Bourquins Erzählungen entführen
uns in poetische Zwischenwelten, wo manch düstere Reminiszenz
der Wirklichkeit sich aufhellt, wo uns die schöpferische Fabel des
Daseins erfasst – als stille Teilhaber der Geister, die im Verborgenen
die Fäden ziehen.
Thomas Heckendorn
Elch in der Dämmerung
In der siebten Nacht stieg der Elch aus
dem Bild. Herausgesogen von den Augen der Kranken, die ihn Abend für
Abend in der Dämmerung entdeckten: Hinter der violetten Blumenwiese
eines Impressionisten – unleserlich der schwarze Namenskrakel in der
Ecke unten rechts, mitten im Gestrüpp –, jenseits des lila
Geflimmers, da, wo der lockere Wald beginnt, mit dunklem Blattwerk,
rötlich leuchtenden Stämmen, da, kein Hausteil, halb
verdeckt, kein Mauerwerk, kein Zauberschlösschen, nein,
geheimnisvoll scheint er auf, der Elch. Rotbraun der Körper,
weiss die Nase, das mächtige Geweih.
In der siebten Nacht stieg der Elch aus
dem Bild, langsam, im Schimmer des Nachtlichts, frass ein paar hängende
Tulpen, rieb sich das Fell am Liegesessel, trabte dann los zur breiten
Zimmertür [ … ]
Irène Bourquin verwebt Wirklichkeit, Phantastik und Ironie zu poetischen
Erzählungen, bis man zu ahnen beginnt, dass Geister durchaus reale Schicksalsauslöser
sein können.
Zur Strahlkraft und Prägnanz von Bourquins Stil passt die Technik des Holzschnitts.
Die Künstlerin Nilla Six schafft für den übers Krankenbett sausenden
Elch und für die von Gespensterhand bewegten Löffel zeichenhafte, schwarzweisse
Bilder. Das kleine Bändchen aus der Heubergpresse in Basel mit dem dichten,
seltenen Papier aus Italien, der Fadenheftung und den von den Originalstöcken
gedruckten Holzschnitten ist eine bibliophile Rarität – und eine blitzkluge
Lektüre noch dazu.
Annemarie Monteil in: Basler Zeitung, 4. 2. 2005