Atlasblau, Kurzprosa und Lyrik, Adonia-Verlag, Thalwil 1991, 96 Seiten.
«Alles kann fremd werden von einem Augenblick
zum andern, noch vor dem Lidschlag.» Als Dichterin der
Augen-Blicke erweist sich Irène Bourquin in ihren Prosatexten; sie hat die
Fähigkeit, Momente zur Deutlichkeit zu bringen, einsichtig und
erfahrbar zu machen, so unbegreiflich und ungreifbar sie sein
mögen. Viel Unerwartetes, Jähes lauert in ihren Sätzen,
viel Hoffnung und Glück auch – und wenn's das «jähe
Glück am Abgrund» ist.
Die Lyrik: Stimmungsbilder von berückender Dichte und Selbstverständlichkeit. Kein Wort, kein Vers wird strapaziert.
Gedichte, die durch ihr blosses Dasein wirken. Gedichte durch und durch.
Dieter Fringeli
Das Buch ist bei der Autorin noch erhältlich.
Gerkes Geruch
Er werde, sagte mein Nachbar, während er mit
dem Gartenschlauch hantierte, deswegen wohl einmal den
Psychiater aufsuchen müssen: Er fühle sich verfolgt, ja
bedroht von einem Geruch, dem er alle drei bis vier Monate völlig
unerwartet irgendwo begegne. Oder vielmehr sei es dieser Geruch,
erklärte Nachbar Gerke mit leise flackerndem Blick, dieser
Geruch, der ihm in irgendeinem Winkel auflauere – er empfinde ihn
als lebendiges, boshaftes Wesen.
Dieser Geruch lasse ihn augenblicklich aussteigen aus dem Hier und Jetzt, entführe
ihn in eine alles überwältigende Erinnerung. Lebensgefährlich sei
das, zumal wenn er, wie es sein Beruf verlange, nachts mit dem Velo unterwegs sei.
Schon zweimal sei er mit dem Vorderrad in die Tramschienen geraten, als der Geruch
sich aus einem Hinterhof, aus einem Hauseingang angeschlichen und auf ihn gestürzt habe.
Das Perfide an der Sache sei nun aber, dass er den Geruch nicht identifizieren könne.
Er lasse sich mit nichts in Verbindung bringen ausser mit dieser ungeheuer starken Erinnerung,
die ihrerseits ebenso undefinierbar sei. [ … ]
Die blaue Riesenfläche auf der Atlasdoppelseite, welche den Pazifik meint
– und die Angst dabei, man könnte den Boden verlieren: Solche Momente, solche
Befindlichkeiten zeigt Irène Bourquin in ihrer neuen Sammlung von Kurzprosa
und Gedichten auf. Es sind Augenblicke, die scheinbar aus der Beiläufigkeit hervorwachsen,
und doch bergen sie heimlich eine unheimliche Bedeutung in sich. Irène Bourquin
weiss sie mit sicherem Instinkt aufzuspüren, entlockt ihnen den Hintersinn. [ … ]
Landschaften und Naturszenerien regen die Autorin zu Gedichten an: intensiv erfühlten
Aufzeichnungen von vitaler Farbigkeit. Dagegen erscheinen die Prosatexte naturgemäss
nüchterner, zurückhaltender. Doch nur auf den ersten Blick hin, denn
auch ihnen ist immer «ein unbestimmtes Sehnen, ein Wispern im Ohr»
eigen.
B. En. in: NZZ, 22. 7. 1991
«Die plötzlich aufsteigende Angst beim Anblick jener Atlas-Doppelseite,
die den Pazifik zeigt – diese Riesenfläche Blau, ein paar winzige Inseln und ausgefranste
Ränder der Kontinente …» Wie lässt sich die Angst beschreiben -
und wie verarbeiten? «Alles kann fremd werden, von einem Augenblick zum andern,
noch vor dem Lidschlag.» Mit diesem Leitspruch aus dem Titeltext im Ohr vernehmen
wir in Irène Bourquins Band «Atlasblau» eine erste Geschichte,
werden aus der Bahn des Vertrauten hinausgeworfen, aber gleichzeitig ausgestattet
mit einem neuen Gleichgewicht, demjenigen des Humors – vorerst freilich des schwarzen
Humors. Nachbar Gerke findet sich existentiell bedroht, und zwar durch einen heimtückischen
Geruch. [ … ]
Die Optik des Humors versöhnt uns, mit uns selber und mit unserer Umgebung.
«Wie ausgesetzt ist der Mensch auf diesem «blauen Planeten»!»
Er sucht Land und findet es auf den Inseln des Humors, der Tragisches entschärft,
befremdende Ferne überwindet. Eigentlich will der kleine Junge in der Erzählung
«Mond im Birnbaum» auf den Mond verreisen, da er aller Voraussicht nach
für einige Tage ein Monster werden muss. Da der Junge aber einsieht, dass er
auf dem Mond die Erde als Begleiterin benötigen würde, bleibt er auf dem
Boden der Wirklichkeit beziehungsweise lässt sich von der Mutter in der Badewanne
schrubben. [ … ]
Der «blaue Planet», seine mächtige Fremdheit, spiegelt sich in
den Seelen ebenso wie im Antlitz der Länder, welche die Erzählerin bereist.
Die Hunde auf den nächtlichen Strassen von Katmandu verkörpern die
Sprengkraft des Lebens; in Wischnu, dem Hindu-Gott, nimmt sie wechselnde Gestalt
an.
Während so die Prosa in die Weite des Raumes greift, tauchen die Verse in den
lyrischen Teilen des Buches «in den Schacht der Zeit», in die Gestirne
und ihre Gezeiten. Die Sprache dieser Verse heisst Natur, als deren Auge wir uns wahrnehmen.
Da verdichtet sich Wischnu zum knapp skizzierten, achtjährigen Jungen: «Wischnu
/ / Ausgespuckt / von der Nacht / Katmandus / Wischnu / achtjährig / ein Schatten
/ drapiert / mit löchriger Jute / barfuss / dreckig / und im Gesicht / die Sonne».
Thomas Heckendorn in: Der Landbote, 27. 4. 1991
Irène Bourquins Botschaften kommen ohne «Ich»
aus, und doch spüren wir in allen Zeilen die hinter Worten versteckte Subjektivität.
Stimmungsbilder sind in meist erdigen Farben gemalt. Die Natur, ihr Vergehen und Werden
mit all den Geräuschen, mit den sichtbaren und unsichtbaren und kaum spürbaren
Veränderungen, sie bildet das Wurzelwerk im lyrischen Schaffen dieser Autorin.
Seit einigen Jahren schon kennen wir von ihr einen Lyrik-Kalender, der uns durch die Zeit
führt, stimmungsvoll den Abglanz von Gegenwart spüren lässt.
[ … ]
Im vorliegenden Buch «Atlasblau» hat auch die Kurzprosa, manchmal
eine lyrische Kurzprosa ihren Platz. Und hier nun lernen wir eine Autorin kennen, der
nicht selten der Schalk im Nacken sitzt. [ … ] Auch hier flüstern
die Dinge in ihrer eigenen Sprache. Und auch hier ist Mitdenken gefordert. Aber dann
bleiben einige dieser Geschichten bestehen, die es lohnen, aufgehoben, aufbewahrt
zu werden.
Hannes Schmid in: Aargauer Tagblatt, 31. 7. 1993
Siehe auch unter Lyrik / Atlasblau.