Der Fuchs ist ein Symboltier, Erzählung, Waldgut Verlag, Reihe lektur, Band 42, Frauenfeld 2014, 104 Seiten, Umschlag Handpressendruck Atelier Bodoni, Inhalt Digitaldruck.
Die Geschichte einer Liebe, rückwärts erzählt in Zeitstufen, die in die Vergangenheit
hinabführen und zurück in die Gegenwart. Die Schweizerin, deren Vorfahren 1923
wie durch ein Wunder das verheerende Erdbeben überlebten, das Yokohama und
Tokio zerstörte, begegnet einem Landsmann, der einst im Fernen Osten seine zweite
Heimat fand. In der Mitte seines Lebens in die Schweiz zurückgekehrt, steht er
zwischen den Kulturen, auch infolge seiner Ehe mit einer Japanerin.
Im neuem Buch von Irène Bourquin bilden in sich geschlossene Kapitel – darunter
eines über Japan 1923 – ein farbiges Erzählmosaik mit vielfältigen Bezügen. Die
schicksalshafte Annäherung zweier Menschen, das Ja und das Nein – was in Japan
kein Widerspruch ist.
Das Buch ist bei der Autorin noch erhältlich.
Am Telefon
Seine Stimme klang warm am Telefon, mit einem verhaltenen
Unterton. Die Trauer, sagte er, nur beim Schreiben könne er der
Trauer entrinnen – und im Zusammensein mit ihr, der ebenfalls
Schreibenden. Sie dachte an seine dunklen Augen, ein lachendes
und ein weinendes. – Wieder sah sie das Foto vor sich, in leicht
verwaschenen Farben: Er und die Verstorbene, Arm in Arm unter
dem Regenschirm in einem japanischen Park. «Japan ist am
schönsten, wenn es regnet», hatte er bemerkt. Ein stilles, sanftes,
inniges Bild. Die verträumte Weichheit in seinem Gesicht, unter
dem früh schon weissen Haarschopf. Die in sich ruhende
japanische Frau, die ihm, dem durchs Leben treibenden
Europäer, Halt gab.
[ … ]
Der Milchkater
Das mächtige Rathaus brannte in tiefem Rot, golden glänzte der
Erker in der Abendsonne, die den Zierrat an Fassade und
Fenstern aufleuchten liess. Sie sassen in einem Café am
Marktplatz, tranken heisse Schokolade. Er bestellte dazu ein
temperiertes Bier. Neben ihrem Tisch hatten sich vier als
Troubadoure kostümierte Musikanten postiert. Einige Passanten
blieben stehen, hörten zu.
Ungern griff er ins Portemonnaie, klaubte einige Münzen heraus.
Als die Musikanten weitergezogen waren, nahm er den Faden
wieder auf. Er hatte ihr Einblick gegeben ins Funktionieren der
Gesellschaft Japans.
«Japanische Ehemänner sind selten zu Hause», sagte er. «Nach
der Arbeit gehen sie mit ihren Kollegen in eine Bar, trinken,
singen Karaoke. Das gehört sich so, stärkt das Gefühl, eine
Gemeinschaft zu sein. Es kommt auch zu Ausflügen ins
Rotlichtviertel. – Solche Eskapaden beunruhigen japanische
Ehefrauen nicht. Es kommt vor, dass sich eine Frau tagsüber mit
einem Vertreter vergnügt, der sie in der Wohnung besucht, oder
mit dem Nudelboten. – Sollte sich der japanische Ehemann aber
ernsthaft in eine andere Frau verlieben, droht eine Tragödie.»
Sie begriff.
Solche Dinge hatten ihre Grosseltern, die einige Zeit in Japan
lebten, nie erwähnt. Alte Fotos zeigten den Grossvater,
Seidenkaufmann, und die Grossmutter – beide sprachen Japanisch
– als einzige Europäer inmitten einer halben Hundertschaft von
Japanern. Sie vermutete, dass der Grossvater, aus guter Familie
stammend und von nobler Wesensart, längst nicht alles erzählte,
was er wusste. Seine Freunde nannten ihn «duke».
«Gehen wir?», fragte er. Nebeneinander schritten sie auf das rote
Rathaus zu und schwenkten in eine der schmalen Altstadtgassen
ein. Gemächlich spazierten sie den Hügel hinauf, betrachteten die
gepflegten Fassaden. Staunend standen sie vor einer prächtigen
Dachlandschaft, hinter der sich leuchtende Wolken ballten. – Er
war von den Dächern mit Scharen schmaler Gauben begeistert,
sie von den Wolken.
In einem stillen Winkel trat eine Frau aus der Tür, gefolgt von
einer milchweissen Katze, die an der Leine geführt wurde.
Verblüfft beobachteten sie die Szene, unterdrückten das
aufsteigende Gelächter. Eine zweite Frau kam dazu, sprach die
Frau mit Katze an. Diese zog eine Bürste aus der Handtasche und
fuhr der Katze sorgsam durchs Fell. «Eine wunderschöne Katze»,
sagte anerkennend die zweite Frau. «Ein Kater, aber kastriert»,
sagte die stolze Besitzerin und hob mit der Bürste den Schwanz
des Tieres. Da konnten sie das Gelächter nicht mehr
zurückhalten.
[ … ]
Das blonde Kimonomädchen
Sie war nie in Japan gewesen, und doch waren das Land, das
Volk, die Kultur stets präsent: in Farbholzdrucken, Hängerollen,
Vasen, Netsukes, Tsubas, Lackdosen und anderen kleinen
Objekten im Eltern-, vormals Grosselternhaus. Gebannt lauschte
sie als Kind den Geschichten der Grosseltern: von der
Hausschlange im Estrich, die Mäuse fing, vom göttlichen Tenno,
auf dessen Schatten niemand treten durfte.
[ … ]
Alte Fotos: Ihre Mutter als kleines Mädchen, blondgelockt und
blauäugig, im Kimono, mit Getas an den Füssen, vor einer Schar
Japanerinnen stehend, einen Fuss auf die Spitze gestellt. Das
europäische Kind auf dem Rücken von Baba-chan, dem
japanischen Kindermädchen. Das hellhaarige Baby in den Armen
einer Japanerin mit kunstvoller schwarzer Frisur. Das blonde
Kimonomädchen mit japanischen Spielkameraden oder mit dem
geliebten Albino-Hasen, der eines Tages spurlos verschwand.
[ … ]
In der Familienchronik las die Enkelin über den Grossvater: «Am
1. 9. 1923 entrann er mit den Seinen wie durch ein Wunder dem
Tod beim Erdbeben, das Yokohama und Tokio zerstörte. Die
ganze Familie wurde unter dem einstürzenden Haus, wo sie sich
für einen Ferienaufenthalt am Meer in der Nähe von Ramakura
aufhielt, begraben, während sein Stadthaus in Yokohama mit all
seinem Hab und Gut ein Raub der Flammen wurde.»
Wie knapp die kleine Familie überlebte, die Grossmutter noch
dazu im vierten Monat schwanger, wurde der Enkelin klar, als sie
einen neun Seiten langen Brief des Grossvaters an seine Mutter
las, mit der Maschine geschrieben in Kobe am 21. 9. 1923. – Mit
zwei Fingern getippt, dachte sie: so hatte der Grossvater sein
Leben lang die Geschäftskorrespondenz erledigt.
[ … ]
«So weit wir sehen konnten, waren alle Häuser zerstört. Wir
hörten später, dass nicht weit von uns 5 Personen in einem Hause
totgeschlagen worden waren & ein Spital wie unser Haus über
eine Mauer hinunter sei & alle tot. Gegen Kamakura &
Yokohama hin, sowie auf die andere Seite, wo das Dorf Katase
war, sah man Rauchwolken & als es Nacht wurde, war der
Himmel rot & wir wussten, dass diese Dörfer brennen.»
[ … ]
In den Trümmern des Ferienhauses suchend, fanden sie einige
Kleider und Esswaren sowie die Uhr des Grossvaters. Die
goldene Uhr, dachte die Enkelin, die Taschenuhr mit dem
schwarzen Anhänger aus Onyx, darauf eingraviert das
Familienwappen, im Innern ein Bild seiner Mutter. Diese Uhr
trug der Grossvater bis ins hohe Alter von 90 Jahren am Gürtel.
Die Enkelkinder waren fasziniert, wenn er sie aufklappte, um die
Zeit abzulesen.
[ … ]
Sie solle nicht immer alles verbalisieren, hat er sie gemahnt und damit
einen Takt vorgegeben, der für Irène Bourquins neue Erzählung gilt. Es ist
die Geschichte einer Begegnung zwischen einem verwitweten Mann und
einer Frau, die beide schreiben und sich in der besonderen Bindung an
Japan einig wissen. [ … ]
Irène Bourquin legt keine kohärente Erzählung vor, sondern fächert ihre
Handlung in Prosaskizzen auf, poetisch getönte Miniaturen, welche die
Lyrikerin verraten. Eingestreut sind skurrile Geschichten aus der Werkstatt
der «Poetin» – so nennt der Mann seine Freundin: so etwa die Humoreske
über den verkannten Autor Kasimir. Später kommen Briefzitate aus der
Korrespondenz des Grossvaters hinzu, in denen der Schrecken über die
Katastrophe noch immer vibriert. Insgesamt siedelt sich der dezente Text in
der Lautlosigkeit an, auch wenn er Gespächssequenzen aufweist. Etwas
Schwebendes haftet ihm an [ … ]
Da ziehen Orte fast wie im Traum vorüber: der Gardasee, Bergamo, der
Comersee, der Kindheitserinnerungen weckt. [ … ]
Wie in einem Traum überwindet die Erzählung die Zeitgrenzen, taucht in
die Vergangenheit, kehrt ins Jetzt zurück. Alles bleibt flüchtig wie das
Flackerlicht der Glühwürmchen in der japanischen Papierlaterne.
Beatrice Eichmann-Leutenegger in: NZZ, 2. 10. 2014
Irène Bourquins Erzählung ist nur lose geknüpft. Sie fädelt sich durch die Zeiten. Ist manchmal eher ein Mosaik aus Kurzprosastücken, die sich nicht immer zueinander fügen wollen. Aber dort, wo sie in die Tiefe gehen, wo japanische Eigenarten und Gewohnheiten auch für die Beziehung des Paares wichtig werden und die Beziehung gerade eine eigene Qualität bekommt, sind es sehr feine Stücke. Man möchte mehr von Japan erfahren, von den Erfahrungen der Großeltern, von seinen dort verbrachten Jahren. Dort könnte man weiter eintauchen. Vieles jedoch bleibt – wie es Gute Sitte in Japan ist – unausgesprochen in diesem Text. [ … ]
Adrian Kasnitz auf: www.fixpoetry.com, 30. 3 .2015